Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat im April 2023 ermittelt, dass rund 308.400 Arbeitskräfte in der MINT-Branche fehlen. Während die Problematik im Bereich der IT bereits seit vielen Jahren lang und breit diskutiert wird, ist kaum jemandem bekannt, dass in den Energie- und Elektroberufen noch deutlich mehr Fachpersonal fehlt. Mit 88.600 offenen Stellen liegt der Bedarf um etwa 75% höher als in der IT. Und das will wahrlich etwas heißen!
Grund genug für die EPP (Fachportal und Fachzeitschrift der Elektronikfertigung), das Thema auf der diesjährigen productronica im Rahmen eines Messetalks aufzugreifen. Als langjährig erfahrene Personalberatung für die Elektronik-Branche war ich eingeladen, mit Stefan Wirth (GF von wirth + partner) und Martin Hieber (Vorstand Technik und Netzwerke im VDE Verband) über die aktuellen Herausforderungen zu diskutieren und darüber, welche Lösungsansätze es gibt, mit dem Fachkräftemangel umzugehen.
Die Aufzeichnung des Talks finden Sie hier:
Lösung durch Automatisierung und KI?
Interessant war in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich das Hype-Thema KI speziell auf den Arbeitsmarkt für Elektroingenieure auswirkt. Kann man hoch qualifiziertes Personal in größerem Umfang einsparen aufgrund der Arbeitserleichterungen, Automatismen und der rasanten Informationsbeschaffung und -aufbereitung, die KI ermöglicht? Oder benötigt man stattdessen eher noch mehr Elektroingenieure, um intelligente Sensorik oder KI-geeignete, innovative Schaltungen zu entwickeln?
Die Abschätzung ist tatsächlich schwierig, denn was heute noch unvorstellbar ist, kann nächsten Monat bereits umgesetzte Praxis sein.
Dennoch werden Elektroingenieure und Informatiker als Technologietreiber auch zukünftig in großer Zahl benötigt werden. Die potenziellen Zeiteinsparungen werden die enorme Diskrepanz zwischen Bedarf und verfügbaren Experten gerade in der Produktentwicklung wohl kaum auffangen können. Die Verbreitung von KI wird voraussichtlich die Rolle von Elektroingenieuren verändern, aber nicht unbedingt verringern.Allerdings kann KI auch bei der Interpretation von Ergebnissen eine große Unterstützung sein und somit Aufgaben übernehmen, für die früher jahrelange Erfahrung und eine gute Ausbildung erforderlich war. Zum Beispiel in der Prüftechnik, Qualitätssicherung oder Prozesssteuerung und -optimierung. Womöglich ergeben sich dadurch neue Chancen und Berufsbilder auch für Quereinsteiger? Gerade in der Produktion werden die Maschinen zunehmend viele Abläufe selbstständig durchführen können, sodass bestimmte Aufgaben auch durch weniger qualifizierte Arbeitskräfte übernommen werden können. Dies wäre ein großes gesellschaftliches Anliegen, um die Arbeitslosenquote bei den ungelernten Kräften deutlich zu reduzieren.
Lösung durch Innovation?
Deutschland hat traditionell eine sehr starke Elektronikindustrie. Die Branche ist geprägt von innovativen Unternehmen, qualifizierten Ingenieuren und einer hohen Qualität in der Produktion. Deutsche Elektronikunternehmen haben international eine sehr gute Reputation. Doch können wir diesen Status bei der enormen Zahl fehlender Ingenieure aufrecht halten oder werden wir jetzt im internationalen Vergleich „abgehängt“?
Nun, dazu muss man sich vor Augen halten, dass dieser Ingenieurmangel in der Elektronik keine Neuerscheinung ist, sondern seit mindestens 20 Jahren existiert. Dennoch haben unsere Unternehmen immer Möglichkeiten zur Innovation gefunden und genutzt. Gerade auch der große Schub in der Automatisierungstechnik war stark getriggert durch den allgegenwärtigen Personalmangel und hat seinen Siegeszug angetreten. Getreu des Mottos „Not macht erfinderisch“.
Weiterhin sollte man sich vor Augen halten, dass Innovation nicht allein an der Zahl der Patente festgemacht werden sollte. Zum einen wird nicht alles, was patentwürdig ist angemeldet und zum anderen geschieht Innovation auch auf anderen Ebenen.
Ideen werden künftig nicht mehr von einzelnen Spezialisten generiert, sondern kommen aus einem lebendigen Wissenskollektiv. Die Open-Source-Bewegung führt sehr deutlich vor, dass komplexe Wissensarbeit vor allem Offenheit und Freiräume braucht, um Innovationen hervorbringen zu können. Wir werden zunehmend über Unternehmensgrenzen hinweg zusammenarbeiten und gemeinsam Synergien schaffen.
Innovation kann weiterhin bedeuten neuartige Dienstleistungs- oder Servicemodelle anzubieten. Modulare Konzepte, die sich flexibel an die Kundenbedürfnisse anpassen lassen. Oder man verabschiedet sich vom Mangeldenken und konzentriert sich lieber auf die Stärken, die der eigene Personalstamm hat und gestaltet ein dazu passendes Nischenprodukt oder -angebot. Es gibt also vielfältige Möglichkeiten und allesamt sind besser als das kollektive Jammern und Wehklagen.
Lösung durch Imagewandel?
Selbstverständlich wäre es zusätzlich erstrebenswert, mehr junge Leute für ein Studium oder eine Ausbildung in der Elektronik zu gewinnen. Wie das gelingen kann, hat eine Studie des VDE in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) und dem Fakultätentag für Elektrotechnik und Informationstechnik hinterfragt. Die ersten beiden von insgesamt 4 Bänden kann man bereits kostenfrei hier downloaden. Betrachtet werden die Themen Image, Berufsfindung, Studienabbruch und mehr Frauen für die Elektrotechnik zu begeistern
Darauf aufbauend hat der VDE ein motivierendes Positionspapier verfasst, in dem Wege und Handlungsempfehlungen aufgezeigt werden, mit denen man dem Fachkräftemangel in der Elektro- und Informationstechnik begegnen kann.
Klar ist wohl, dass es mehr Aufklärung bei der Berufsorientierung bedarf. Die Umsetzung der Bologna-Reform hat in Deutschland zu einem starken Anstieg der Studienmöglichkeiten geführt. Rund 22.000 Studiengänge stehen einem Abiturienten zur Auswahl, davon knapp 4.500 im Ingenieurwesen. Wer soll da noch zielführend vorankommen? Hier täte es dringend Not den jungen Leuten Orientierung und Sicherheit zu geben, dass man mit einem Ingenieurstudiengang nichts falsch machen kann, da man mit einem solchen Abschluss vielfältige Berufswege gemäß den eigenen Neigungen beschreiten kann. Dies gilt ganz besonders auch für die typisch weiblichen Themen. Eine bundesweite Kampagne könnte transparent machen, dass Themen wie Nachhaltigkeit, Gesundheit, Ästhetik/Design, Netzwerken und Kommunikation in jedem Ingenieurzweig zu finden sind. Das Bild eines Ingenieurs sollte nicht auf „Daniel Düsentrieb“ reduziert werden.
Hoffen wir also, dass das Positionspapier Gehör beim BMBF findet und baldmöglich in einer konzentrierten, umfassenden und längerfristig angelegten Werbekampagne umgesetzt wird.